Verdachtsmomente


(An Artist’s Statement on Artist’s Statements)

Die Idee zu Artist’s Statement kam mir während der Vorbereitungszeit der documenta11, Anfang des Jahres 2002. Ich war gerade von einer Residency aus Kanada nach Deutschland zurückgekehrt und begann einen Job als Kunstvermittler auf der documenta11 in Kassel. Im Team der Vermittler war ich einer der wenigen Künstler, die Mehrheit der Kollegen kam aus der Theorie. In der Vorbereitungsphase erarbeiteten wir uns das jeweilige Œuvre der ausstellenden Künstler.

Ich muss zugeben, dass ich als Künstler eine natürliche Skepsis gegenüber Kuratoren habe, sind sie doch meine Antipoden. Folglich beobachtete ich sehr genau die Herangehensweise und Analyse meiner Kollegen. Ich stellte fest, dass ich bevorzugt mit Bildmaterial arbeitete und vor allem aus der Form begründete, während sie dazu neigten bereits existierende Texte zu den Künstlern zu rezipieren und dazu Kontext und kulturellen Hintergrund zu analysieren. Da jedoch sehr viele Künstler nach Kassel kamen um ihre Arbeit zu installieren gab es die zusätzliche Möglichkeit sie persönlich kennen zulernen und das Erarbeitete mit der Person abzugleichen. Ist doch der Künstler die Quelle per se.

Es gibt kaum noch allgemeinverbindliche Kriterien an denen sich Qualität von Kunst messen lässt. Ein Kriterium, das diesen kriterienlosen Zustand umgeht, ist Authentizität: Der Maßstab ist die Übereinstimmung von Werk, Person und deren Umfeld. Je deckungsgleicher diese drei Faktoren sind, desto näher an Wirklichkeit, desto mehr Spiegel von Wirklichkeit ist das Werk.

Die für mich frappanteste Reaktion meiner Kollegen auf die Begegnung mit den Künstlerinnen und Künstlern war, dass sich offensichtlich die Analyse und Bewertung des Werks durch einen persönlichen, emotionalen Faktor, durch Sympathien und Antipathien veränderte. Luc Tuymans zeigte ca. 150 – 200 Dias seiner Gemälde und sprach dabei eher auf den Tisch ein vor dem er saß, statt sich an sei Publikum zu wenden. Thomas Hirschhorn stand breitbeinig da, wirkte entschlossen, Joël Türlinx war offen, persönlich, und auf Tanja Bruguera reagierte ich selbst sehr subjektiv und fand sie nur lieb und nett.

Aus den Erfahrung meiner Tätigkeit als Kunstvermittler für die d11 entstand ein entscheidender Verdacht: während Künstler nach wie vor aus der Anschauung heraus argumentieren, scheint bei anderen Menschen die Regel zu gelten: Ich sehe nur was ich weiß. Und ich vermute weiterhin ein visuelles Denkvermögen bei Künstlern gegenüber dem Bedürfnis nach Verbalisierung des Visuellen auf der Seite der Betrachter, Rezipienten, Verwerter. Denn die Vorstellung von Verständnis scheint eher der Sprache zugeordnet und die gewohnte Logik des Verstehens linear, Schritt für Schritt von der These zur Synthese. Es kamen noch weitere Verdachtsmomente hinzu: Kuratoren der d11 sprachen hin und wieder von der Funktion von Kunst. Dabei nannten sich auffallend oft: knowledge production, zu Deutsch: Wissensproduktion. Wissen plus Produktion klang für mich häufig wie ein Alibi gegenüber einer sonst rationalen und materialistischen Welt. Es entstand bei mir der Verdacht, man wolle Kunst verwissenschaftlichen, wolle sie als Versuchsanordnung sehen, die sich analysieren und kategorisieren lässt. Auf jeden Fall wurde sie mit Wissen in Verbindung gebracht, folglich lehr- und erlernbar– keine Rede jedoch von Kontemplation oder Anschauung.

Aus der Beobachtung der Differenz der angloamerikanischen und der deutschen Kunstrezeption filterte ich einen stärkeren Wunsch nach Versprachlichung des Gesehenen im angloamerikanischen Raum. In Kanada hatte ich das Artist Statement kennen gelernt, als solches unbekannt in Deutschland. Vielleicht weil Schiller, ein Vater deutscher Ästhetik bereits sagte: Rede nicht Künstler, bilde!

Weiterhin auffallend: Die Entwicklung der Kunstgeschichte, bzw. der Theorie im Verhältnis zur Kunst. Auch hier scheint mir eine immer größere Spaltung zwischen Wort und Bild zu entstehen. Am Anfang war das Bild noch ein Bild und das Wort war bei Gott. Am Ende weißt uns René Magritte darauf hin: Çe n’est pas une pipe! Denn es ist keine Pfeife, es ist das Bild einer Pfeife. Vielleicht stand am Anfang die Magie des Bildes, eine Bildmagie die alle Menschen gleichermaßen bannte. Mein erster Lehrer, Professor Gerhard Wendland, erzählte mir, dass die Menschen in grauer(!) Vorzeit manchen Rot-Ton als physischen Schmerz empfanden, so wie wir uns noch heute bestimmten akustischen Tönen nicht entziehen können.

Waren also die Bilder lange Zeit lesbarer als Schrift, nicht nur weil die meisten Menschen Analphabeten waren, sondern weil allgemein ein größerer Konsens herrschte, der Mensch weniger Individuum war? Begann mit der Moderne eine Spaltung, die alle Qualitätskriterien für Kunst auflöste, da das Individuum der einzige Maßstab seiner selbst wurde? Ist die Zentrifuge der Avantgarde ein schrittweises Abspalten der Kriterien, eine Dekonstruktion durch den sezierenden Homo Sapiens Sapiens? Bleibt am Ende das Wort?

Sei hier eine letzte Beobachtung genannt, auch wenn mir das Wort Beobachtung in diesem Fall zu sehr an der Vorstellung von Sehen klebt. Immer öfter spricht man von oraler Kunst (art works on an oral level). Man spricht; keiner hat sie gesehen.
Der Künstler bleibt als einziger Zeuge. Wer seinen Augen nicht traut prüft die Glaubwürdigkeit des Künstlers. Wirkt er authentisch, lässt sich auch seine künstlerische Tat rechtfertigen. Die Kunst eines Künstlers wird durch die Aussage des Künstlers begründet.
Artist’s Statement ist meine Versuchsanordnung. Die Frage welches Bild der Künstler abgibt überlasse ich dem geneigten Leser. Über meine Absichten (als Künstler) möchte ich Sie im Unklaren lassen.


Originaltitel: "An Artist’s Statement on Artist’s Statements". Erschienen 2005 in "Proximities", Kamloops Art Gallery, British Columbia.